
»Sogar unsere Helden werden gekapert.«
TEXT: PAULA YACOMUZZI
FOTOS: MICAELA MASETTO
Juli 2021
Zoltan Kunckel (Caracas, 1975) hält in seiner Hand ein Bündel glänzender neuer Geldscheine. Fünf Zentimeter fest gepacktes Geld, das er aus einer Metallschachtel genommen hat. Er entfernt vorsichtig das Gummiband und breitet einige davon auf dem Tisch aus. »Sieh mal, es ist immer derselbe Schein: hier waren es noch hundert Bolívars«, sagt er und zeigt einen grünen. »Dann wurden es zwanzigtausend, derselbe in rot. Und dann kam dieser hier, der eine Menge Verwirrung brachte, weil die Leute dachten, er sei einen Hunderter wert. Aber nein, da unten steht ‘Tausend’. Es sind hunderttausend. Sie wollten die drei Nullen nicht drucken. Das ist nichts mehr wert. In Venezuela haben sie das Geld kiloweise verkauft.«
Aus einer großen Pappschachtel entnimmt er Gegenstände, die das Wappen Venezuelas tragen. Broschüren von politischen Kampagnen, Schulhefte, Alben mit kleinen Figuren… Dann legt er zwei goldene Medaillen auf den Tisch, die in meine Hand passen. »Das alte und das neue Staatswappen«, erklärt er. Sie unterscheiden sich unter anderem im Stil der Zeichnung der Lorbeeren, aber am auffälligsten ist das weiße Pferd. Auf einem Wappen trabt es nach rechts, während der Kopf nach links gedreht ist. Bei der neuen Variante bewegen sich der Körper und der angehobene Kopf im Gleichschritt nach links. Es ist eine der Änderungen der nationalen Symbole, die 2006 auf Wunsch des Präsidenten Hugo Chávez vorgenommen wurden. Das Pferd wurde gedreht, um seine Gangart auf die ideologische Ausrichtung der Regierung abzustimmen.
In den ersten fünfzehn Jahren des neuen Jahrtausends beschäftigte sich der venezolanische Künstler, Sohn einer ungarischen Mutter und eines deutschen Vaters (daher sein Vor- und Nachname) mit der Figur des Simón Bolívar und der Entwicklung und Aneignung seiner symbolischen Dimension. Simón Bolívar (1783-1830) war der »Befreier Amerikas« und Anführer des Lateinamerikanischen Unabhängigkeitskampfs. Zoltan begann, viel zu lesen. Ihn interessierte, wie die Politik in seinem Land sich ein ums andere Mal auf den Nationalhelden berief.
»Als ich anfing, Venezuela mit Europa, den Vereinigten Staaten und anderen lateinamerikanischen Ländern zu vergleichen, war ein solcher historischer Held in der aktuellen Politik der Länder nicht so präsent. In Venezuela haben Politiker Bolívar seit Langem für ihre Kampagnen genutzt. Das wurde zu einem ständig sich wiederholenden Schema, und dann kam Chávez daher und nutzte dieses Phänomen, das ja bereits vorhanden war. Mit dem Chavismus hat der Mythos Bolívar ein Niveau erreicht, das man sich kaum vorstellen kann. Der Name des Landes wurde geändert, man begann, ‘bolivarischen’ Ritualen wie der Überreichung des Degens besondere Bedeutung beizumessen (5.000 Repliken von Bolívars Degen werden hergestellt, um sie bei offiziellen Besuchen zu überreichen), auf der Grundlage eines Dekrets Bolívars von 1817 wurde ein weiterer Stern zur Flagge hinzugefügt… Es gibt einen Überfluss an neuen Bildern.«
Zoltan hat bereits für seine Diplomarbeit an der Universität der Künste in Berlin eine Sammlung von Bolívar-Objekten angelegt und einige davon 2008 im Museum der Dinge präsentiert. Aber die Sammlung wächst immer weiter, weil das Phänomen Bolívar immer weiter wächst. In diesem Jahr hatte er zudem die brandneue Möglichkeit, die gesamte Forschung in Berlin in der Ausstellung »Museo de la Democracia« zu präsentieren. Sie wurde an der NGbK durchgeführt und untersuchte die Erosion der Demokratie und ihrer Institutionen in Lateinamerika anhand aktueller Ereignisse und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.
Zu seiner Arbeit über Bolívar gehören auch eine Studie der zu Lebzeiten Bolívars entstandenen Porträts, ein Triptychon mit Fotografien unter dem Titel »Censored-Kidnapped-Threatened«, das auf den (zu politischen Zwecken) entführten Helden anspielt, und »Exhumado«, eine Performance, für die er sich als Bolívar verkleidete und die auf Video aufgenommen und bearbeitet wurde. Damit weist er auf den bewussten Einsatz patriotischer Symbole als kulturpolitische Instrumente und auf den Prozess der Trivialisierung des Nationalhelden hin.
GLEICHGEWICHTE
Das Modell eines grauen Gebäudes auf einer tischhohen Säule ist das einzige Objekt in der linken Hälfte des Ateliers. An den weißen Wänden auf dieser Seite sind keine Regale, Zeichnungen oder Poster, und der Schreibtisch (ein Leuchttisch für Dias) ist leer, grünes Glas auf Metallbeinen. Zumindest bevor Zoltan anfängt, Materialien auszubreiten, als wir eintreten und ich mich rasch von der Fremdartigkeit des schrägen Bodens erhole.
»Dieses Haus ist schief«, hatte er gesagt, als ich gerade durch die Haustür getreten war.
»Wie ‘schief’?«, hatte ich gefragt.
»Schief.«
Auf der sechsten oder siebten Stufe spüre ich, wie sich der Schwerpunkt meines Körpers auf meine Fersen verlagert. Die Wand des Treppenabsatzes, rötlich wie auch der Boden, wölbt sich leicht zu mir hin und ich strecke meine Arme zur Unterstützung aus. Oben angekommen, beruhigt mich das klare Licht des Raumes. In der rechten Ecke hängt eine verchromte Stahlskulptur von der Decke. Die Geschmeidigkeit ihrer Kurven und ihr anmutiges Schwingen, erzeugt von der Luft, die durch ein Dachfenster eindringt, strahlen Ruhe aus.
Wenn das Gebäudemodell auf asketische und solide Weise die linke Seite des Raumes beherrscht, dann bestimmt die in der Luft leuchtende und sich schlängelnde Skulptur die andere. Sie dreht sich hinter mir, während wir am Schreibtisch sitzen und reden. Wie Yin und Yang stellen die beiden Werke die Extreme dar, zwischen denen sich der Künstler, der sie geschaffen hat, bewegt. Sie könnten in Form und Inhalt nicht unterschiedlicher sein.


Das Modell ist Teil einer Videoinstallation, die staatliche Folter in Venezuela anprangert. Es trägt den Namen »Unter Palmen ein Grab« und rekonstruiert, basierend auf den Aussagen ehemaliger Häftlinge, den Aufbau der Folterzellen im Zentrum von Caracas, die sich unter dem Gebäude der nationalen Geheimpolizei befinden. Es wurde während eines Aufenthalts im Stasi-Gefängnis Berlin Hohenschönhausen geschaffen und projiziert das Caracas von heute in die Realität der DDR von vor fünfzig Jahren.
Auch in »White Torture, Underground Poetry« beschäftigt sich Zoltan mit dem Thema Folter. Die Installation, die er 2020 gemeinsam mit dem Aktivisten und Träger des Sacharow-Preises für geistige Freiheit, Lorent Saleh, im Europäischen Parlament schuf, basiert auf Salehs eigener Erfahrung von Isolation und Folter in Venezuela und versucht, die Sinneswahrnehmungen in solchen Extremsituationen darzustellen. Im Untergeschoss des Parlamentsgebäudes in Brüssel simulierten rot-weiße Lichteffekte die visuellen Empfindungen nach zwei Jahren Dauerlicht und Tinnitus-ähnliche Geräusche die Folgen der Schläge. Saleh hielt sich während der sechsunddreißig-minütigen Performance in einer Zelle in der Mitte auf.
»Ich hatte noch nie mit jemandem zusammengearbeitet, der eine solche Erfahrung gemacht hatte. Ich hatte performativ gearbeitet und versucht, mich in eine Situation hineinzuversetzen, aber jemanden zu sehen, der aus so einer Situation kommt und sie noch einmal durchlebt, um damit anzuklagen, das hat mich sehr berührt. Es war aufrichtig und traf mich tief in meinem Innern. Und es war auch bereichernd.«
Nach diesen beiden eindringlichen Arbeiten hat Zoltan dann seine Recherche über Bolívar und patriotischen Symbole in Venezuela thematisch fortgeführt.
Das Stahlmobile hingegen ist ein Prototyp, das Originalwerk hat einen Durchmesser von etwa einem Meter. Zoltan hat im Laufe der Jahre eine ganze Serie von Metallskulpturen geschaffen, von denen einige auf seinem Instagram-Account zu sehen sind. Sie waren das Letzte, was er in Venezuela ausstellte, bevor er 2015 nach Berlin kam. Er plant, sie demnächst auch in Madrid zu präsentieren – sobald es die Pandemie und seine anderen Verpflichtungen zulassen.
DER BEFREIER
»Wer war Simón Bolívar?«
»Simón Bolívar war einer der Lieblinge der alteingesessenen Familien, die Caracas gegründet haben. Die Familie erhielt ihr Wappen, als sie zum neuen Kontinent aufbrach, sie hatten sehr gute Beziehungen zur spanischen Krone. Bolívar verbrachte die meiste Zeit seiner Ausbildung bei Verwandten und fuhr oft nach Spanien. Er wurde früh Waise und dann von zwei Lehrern erzogen, (Simón) Rodríguez und (Andrés) Bello, zwei Eminenzen der neuen Ideen in Amerika. Sie machten ihn vertraut mit der Idee von Freiheit und Gleichheit, zwei völlig revolutionäre Werte zu dieser Zeit.«
»Dann erlebte Bolívar die Krönung von Napoleons Bruder in Madrid mit… Als er nach Venezuela zurückkehrte, versuchte er, sich mit den Unabhängigkeitskämpfern einzulassen, aber wegen seiner Position innerhalb der Gesellschaft von Caracas trauten ihm viele nicht. […] Das war am Anfang. Die Unabhängigkeitsbewegung existierte in Venezuela bereits vor Bolívars Ankunft. Und Bolívar, der damals von fünf Seiten Vermögen geerbt hatte, investierte seinen letzten Pfennig, sein ganzes Erbe, in den Befreiungskrieg. Es gibt viele Aspekte an ihm, die Anzeichen eines wahren Heldentums sind. Er gab alles: körperlich, intellektuell und finanziell.«
»Was von Bolívars Vision bis heute gilt, ist die lateinamerikanische Einheit, die darauf beruht, dass alle die gleiche Sprache sprechen und ähnliche kulturelle Merkmale haben. Damals konnte sie sich nicht durchsetzen, vor Allem wegen der räumlichen Entfernungen, die zu Pferd einfach unbeschreiblich groß waren. Interessant ist auch, wie er sich für die Befreiung der Sklaven einsetzte. […] Letztendlich endete die Sklaverei tatsächlich, es gab keinen Sklavenhandel mehr in Kolumbien und Venezuela. Eine gigantische Leistung für die damalige Zeit. Obwohl man andererseits bedenken muss, dass er sich am Ende in einen Diktator verwandelte – als er ein Land gründete, das seinen Namen trug: Bolivien.«
»Aber deine Kritik richtet sich nicht gegen Bolívar.«
»Meine Kritik richtet sich nicht gegen Bolívar. Bolívars Leben von 1800 bis 1830, als er in Santa Marta starb, war bewundernswert. Daran gibt es keinen Zweifel. Was mich bei meinen Recherchen beeindruckt hat, ist, dass er noch zu Lebzeiten eine sehr geschickte Imagepflege betrieben hat. Die vielen Medaillons, die es von ihm gibt, diese Miniaturen in Öl (das Kolonialmuseum in Bogotá hat viele davon), wurden von Bolívar selbst an seine Admiräle und Leutnants verschenkt – als Schlachtsouvenirs. Das ist das gleiche, was politische Parteien heutzutage noch tun: alles mit ihren Ansteckern überschwemmen. Dasselbe gilt für die Degen. Es gibt viele Degen von Bolívar, nicht nur einen, wie die Leute sagen. Und das liegt daran, dass Bolívar viele Degen überreicht hat.«
»Ich muss an deine Studie über die Porträts, die von ihm gemacht wurden, denken. Er musste sich wirklich oft hinsetzen, um sich malen zu lassen…«
»Aber Bolívar ließ sich nicht oft malen! (Er holt Material hervor, um es mir zu zeigen.) Es wurden viele Kopien gemacht. Es gibt die Bilder von José Gil de Castro, aber er war nur ein einziges Mal bei ihm. Dann fingen sie an, Kopien und Kopien von Kopien zu machen, wie damals üblich. Zu dieser Zeit war die Haltung, in der die Personen dargestellt wurden, immer die gleiche, und auch die Uniform. Die Portraits konzentrierten sich auf das Gesicht und die Proportionen. Sogar das Pferd und der Hügel in einigen Bildern sind kopiert. Unter den Porträts von ihm gibt es eines, das früh entstanden und sehr interessant ist. Aber es ist schwer zu glauben, dass es wirklich Bolívar zeigt.«
»Ich habe die Portraits mit mehreren Leuten analysiert, die hier mit Gesichtserkennungssoftware arbeiten, und mir die Proportionen angesehen. Zum Beispiel sieht er auf diesem Gemälde aus dem späten 17. Jahrhundert wie ein völlig anderer Mensch aus. Die Kunsthistoriker sagen, dass man daran denken muss, dass es sich nicht um eine Fotografie handelt, sondern dass die Wiedergabetreue von den Fähigkeiten des Künstlers abhängt. Aus demselben Grund restaurieren sie ihn jetzt, wenn sie Bolívar exhumieren, mit der neuesten Technologie und schaffen ein neues Gesicht. Das war einer der Gründe für die Exhumierung.«
»Weil die vorhandenen Porträts zu unterschiedlich sind.«
»Genau. Aber es gibt auch die Kohlezeichnungen, die ein kolumbianischer Künstler in den letzten Wochen von Bolívars Leben angefertigt hat. Es gibt viele davon, es sind Bleistiftsilhouetten. Wenn man sich die Gemälde von José Gil de Castro und die Zeichnungen dieses kolumbianischen Künstlers aus Santa Marta anschaut, ist es dieselbe Person, dieselben Proportionen von Gesicht, Haar, Nase…«
»Was war Ihr Ziel bei der Durchführung der Gesichtsanalyse?«
»Ich wollte herausfinden, welche Gesichtszüge all die Porträts von Bolívar gemeinsam haben. Auf welche Merkmale kann ich Bolívar so reduzieren, dass man ihn noch erkennen kann? Ich fand heraus, dass es die Koteletten, das Haar und die spitze Nase waren. Auf allen Bildern waren die gleichen Koteletten zu sehen, obwohl sie damals alle so trugen: (Francisco de) Miranda, Andrés Bello, (José de) San Martín… Aber die Glatze, die einen sehr großen zurückweichenden Haaransatz hatte und Geheimratsecken: da stimmen sie alle überein. Und schließlich die Nase, die sehr spitz war. Ich habe auch, um es auf die Spitze zu treiben, die Körperbeschreibungen zusammengestellt, die in den Zeitungen auftauchten. Ich habe (Daniel Florencio) O’Leary, (Antonio José de) Sucre, die Bolívars Haare oder seine Nase erwähnen. Und sie sind sich alle einig. So sah Bolívar aus.«




»Nur noch fehlt, dass man Bolívar auf Toilettenpapier zu drucken, um ihn zu verkaufen. Bolívar wurde zu einer Popfigur.«

»Auf dem neuen Portrait, das kürzlich angefertigt wurde, hat er eine viel stärker ausgeprägte Kieferlinie. Es wurde mit 3D-Rendering gemacht und ich weiß nicht, woran das liegt, vielleicht daran, dass es auf einer Person basiert, die sicher korpulenter war. Es gibt viele Verschwörungstheorien, die davon sprechen, dass Bolívar ermordet wurde, vergiftet… Doch es gibt ein sehr gutes Buch, das ich in Kolumbien gefunden habe, das Tagebuch seiner letzten Krankheit und der letzten Tage seines Lebens. Es ist das Buch seines Arztes Dr. Reverend, der ihn in Santa Marta behandelte, und er beschreibt dort Bolívars körperlichen Zustand vor seinem Tod. Der Arzt schreibt dort: Der körperliche Verschleiß, unter dem dieser Herr leidet, ist grausam.«
Zoltan entfaltet ein riesiges weißes Blatt, das aus mehreren aneinander gefügten DIN-A4-Blättern besteht. Man sieht darauf eine rote Linie, die mit einem feinen Markierstift gezeichnet wurde und von links nach rechts verläuft. Sie verbindet die Orte, an denen sich Simón Bolívar von seiner Geburt in Caracas bis zu seinem Tod aufgehalten hat.
»Er wird 1783 geboren, verbringt seine gesamte Kindheit in Caracas – und 1799 legt er los. Hier sind die Orte, die er besucht hat: La Guaira (Venezuela), Havanna, Mexiko, Madrid, Paris, Italien, Hamburg, Die Vereinigten Staaten, England, Puerto Cabello, Curacao, Cartagena und so weiter. -97 Orte, sie sind nummeriert. Es ist eine enorme Leistung, die Anden zu Pferd zu überqueren. Die vielen Kilometer, die diese Männer zurückgelegt haben, durch den Dschungel, mit lausiger Kleidung, krank… Ich weiß nicht, wie er so lange überlebt hat.«
Seine »Operationszentren« waren Cartagena und Bogotá, und tatsächlich starb er auch in Kolumbien, in Santa Marta. Im Jahr 1842 wurde er zum ersten Mal exhumiert. Der Körper sollte nach Venezuela gebracht werden und das Herz in Kolumbien bleiben. Aber das Herz ist verschwunden.
»Die Exhumierung im Jahr 1842 war ein großes Ding. Es wurde ein besonderer Sarkophag angefertigt, um ihn in die Kathedrale von Caracas zu überführen, die heute das nationale Pantheon ist. Dort wurde er zum Befreier ausgerufen. In diesem Kontext ist die Bedeutung des Raumes sehr wichtig: Dort beginnt der Prozess der Schaffung dieses Heldenbilds: Bolívar wurde exhumiert, dann zurückgebracht und die Kirche zu einem Kapitol gemacht, wo die Götter begraben werden. Dann wurde der Altar entfernt und an seiner Stelle steht nun der Sarg mit der Statue von Bolívar. Dieses Bauwerk wurde also zu einem Mausoleum für Bolívar. Im Nachhinein begannen dann mehrere Präsidenten, die Person Bolívar für ihre Interessen zu gebrauchen.«
»Wie lief dieser Prozess ab?«
»Erst kam die Verherrlichung und dann begannen die Mythen. Und wenn man den Mythen freien Lauf lässt, besonders mit dem magischen Realismus, der in Lateinamerika existiert… Interessant ist, wie Bolívar wahrgenommen wird, je nachdem, mit welchem Teil der venezolanischen Santería man spricht. Wenn Sie zum Beispiel mit Leuten sprechen, die zum Negro Primero (eine Altarfigur, die den gleichnamigen Nationalhelden zeigt) beten, werden sie Ihnen sagen, dass Bolívars Mutter in Wirklichkeit schwarz war. Wenn Sie mit Leuten reden, die zum Indio Primero oder zum Cacique beten, werden sie Ihnen sagen, dass seine Mutter eine Indianerin war. So geschieht es nicht nur auf der politischen Ebene, dass die Parteien ihn benutzen und zitieren, um Sie dazu zu bringen, für die eine oder andere Partei zu stimmen. Sie haben auch das Phänomen des religiösen Synkretismus, der Bolívar nimmt und den ‘Hof der Befreier’ schafft, der mit Statuetten auf Altären platziert ist, zu denen die Menschen beten und Opfergaben bringen. Dann haben Sie eine Regierung, die diese populäre Domäne nimmt und sie noch mehr aufbläht, sie trivialisiert. Jetzt sind wir an einem Punkt angekommen, an dem nur noch fehlt, dass man Bolívar auf Toilettenpapier zu drucken, um ihn zu verkaufen. Bolívar wurde zu einer Popfigur.«
»Dort geht Ihre Arbeit heute weiter.«
»Für mich war es eine sehr interessante Erfahrung, zu sehen, wie die Menge an Material quasi exponentiell weiterwächst. Aber es ist verrückt. Ich habe keine Ahnung, wohin das noch führen soll.«
BOLÍVAR WERDEN
Im Jahr 2011 verkleidete sich Zoltan als Simón Bolívar und spazierte über die nach dem Nationalhelden benannten Plätze und Alleen in Caracas. Das Ganze wurde gefilmt und unterlegt mit Video- und Audioaufnahmen von Chávez und vom Staatsfernsehen gesendet. Ich frage ihn, wie es zu der Idee kam.
»Die Performance entstand aus einem Gespräch, das ich mit meinem Professor Michael Fehr hatte. Es gab bereits so viel Material über Bolívar, dass er mir sagte, das einzige, was noch fehle, sei, dass ich mich als Bolívar verkleidete. Als ich in Venezuela ankam, war der Fernsehsender RCTV gerade von der Regierung geschlossen worden. Ich hatte mit einigen sehr kritischen venezolanischen Komikern gearbeitet und sie wiederum arbeiteten mit einer der erfahrensten Maskenbildnerinnen des Landes. Sie war nun arbeitslos und verkaufte zusammen mit ihrer Tochter Empanadas, um über die Runden zu kommen. Die Genehmigungen des Senders wurden nicht verlängert – ein Skandal. Also erzählte ich den beiden von meiner Idee, eine Performance für eine Fotoserie zu machen. Das war der Anfang. Später, verkleidet, sagte ich, warum gehen wir nicht auf die Straße und konfrontieren die Leute mit dem Bild von Bolívar.«
»Zu diesem Zeitpunkt waren die Medien bereits übernommen worden. Man hat auch versucht, die Autonomie der Universitäten zu untergraben, was nach und nach auch gelang, indem man ihnen die Mittel strich. Die UCV [Zentraluniversität von Venezuela], deren Campus zum UNESCO-Welterbe gehört, fällt zusammen. Die überdachten Gänge stürzen ein, weil es keine Wartung gibt. Die Studenten bringen die Glühbirnen mit und die Professoren das Toilettenpapier. Und damit begann die systematische Vernichtung so vieler freier Medien. Zwanzig Radiosender waren schon geschlossen worden, zwei regionale Zeitungen… Diese Tatsache, dass sie sich die nationale Identität aneignen, um dieses neue Monster zu schaffen, während es das totale Gegenteil von dem ist, was diese neue nationale Identität vorgibt darzustellen (Freiheiten, neue Denkweisen, Gleichheit für alle, unabhängig von der politischen, sozialen, wirtschaftlichen Position oder von der Hautfarbe). Unsere Freiheiten werden uns genommen, sogar unsere Helden werden gekapert, alles wird notdürftig repariert und wieder verpackt.«
»Die erste Performance war also diese Fotoserie. Als Bolívar exhumiert wurde, sah ich all diese Paraphernalien, die benutzt wurden, wie auch im Video zu sehen ist: die Originalaufnahme einer Rede von Chávez im Staatsfernsehen, während Bolívars Leiche im Pantheon exhumiert wurde. Die ersten, die sich dem Pantheon nähern, sind keine Wissenschaftler, sondern Militärs. Schon beginnt wieder der Einsatz von militärischen Symbolen, als man sie marschieren sieht.«
»Dazu gibt es einen Teil von Chávez’ Diktion, auf den ich immer gerne hinweise: Trump ist sozusagen ein Chávez-Phänomen. Es ist die Art und Weise, wie er jeden disqualifiziert, der nicht so denkt wie er, und dann das ganze Pack auf ihn hetzt. Gleicher Inhalt, gleiches Format. Wenn Chávez sagt, dass diejenigen, die nicht an Bolívar und den Bolivarismus glauben, keine Seele oder eine verdorbene Seele haben, dann sitzt man zu Hause, hört sich das im nationalen Fernsehen an und sagt: Moment mal, warum soll ich eine verdorbene Seele haben? Weil ich nicht glaube, dass Bolívar ein höheres Wesen ist?«
»Als ich Xionora, die Maskenbildnerin, wieder anrief, sagte sie mir: ‘Ich komme mit und mache die Retuschen’. Sie kommt in zwei der Aufnahmen vor und rennt, weil das Wachs in der Hitze geschmolzen ist und sie mich die ganze Zeit über nachgeschminkt hat, damit das Make-up nicht auseinanderfällt. Es war alles sehr Guerilla-Kunst, alles mit versteckten Kameras, so dass man nicht sehen konnte, dass es gefilmt wurde. Als ich auf die Plaza Bolívar spazierte und dann um das Kapitol herumging, das total vom Militär umgeben war, wurde ich auch dort noch gefilmt. Außerdem machten die Soldaten ….« Er hebt die Hand an die Stirn.
»Sie haben salutiert?«
»Ja, ja, ja. ‘Erlauchter, Erlauchter!’ Als wir auf dem Platz waren und aufhörten zu filmen, kamen sogar Leute auf mich zu und sprachen mich an: ‘Erlauchter, können Sie ein Foto mit meiner Tochter machen?’ Und ich sagte: ‘Hören Sie, ich bin ein Künstler. Es würde mich freuen, ein Foto mit Ihrer Tochter zu machen, aber nennen Sie mich bitte nicht Erlauchter’.«





»Es war wirklich bizarr, dass ich nach Berlin kommen musste, um Leute aus Kolumbien kennenzulernen.«




»Ich habe dieses Video in der Austellung ‘Museo de la Democracia’ gesehen.«
»Für mich war die Möglichkeit, das Video dieser Performance dort zu zeigen eine Überraschung und auch erfreulich, weil ich das schon vor zehn Jahren gemacht habe, im Jahr 2011. Und weil es in Venezuela aus offensichtlichen Gründen nie gezeigt wurde, und sich auch kein Ort im Ausland fand, wo es gezeigt werden konnte. Weil man erklären musste, wer dieser Bolívar eigentlich ist und warum wir ihn als Thema gewählt haben, und so weiter. Dieses Thema hat mit der Realität hier einfach wenig zu tun. Und jetzt hat sich mit ‘Museo de la Democracia’ ein Raum für das Präsentation ergeben, den ich nicht erwartet habe, wow!«
»Denkst du, dass in Berlin eine Öffnung gegenüber lateinamerikanischer Kunst stattfindet oder ist eine Initiative wie ‘Museo de la Democracia’ ein Zufall?«
»Ich denke, weil in den letzten fünfzehn oder zwanzig Jahren eine sehr starke Migration von Lateinamerika nach Europa stattgefunden hat, gibt es mehr spanischsprachige Menschen in den Institutionen. Mehr Kuratoren, zum Beispiel. Das schafft ein größeres Interesse und mehr Möglichkeiten zur Präsentation und zum Austausch. Aber ich denke, dass auch ein bisschen Glück im Spiel ist. Im Fall von ‘Museo de la Democracia’ und Bolívar ist das etwas so Spezielles, dass es vielleicht auch mit dem globalen Kontext zu tun hat, im Sinne der Machtstrukturen dieser Helden, die aufgebaut werden, um eine bestimmte politische Tendenz oder Orientierung zu zertifizieren.«
KAUM FREIRAUM
Zoltan studierte Fotografie in Ungarn, an der Universität für angewandte Kunst, heute Moholy-Nagy Universität. Danach arbeitete er mehrere Jahre lang mit der Regisseurin Ossko Judit zusammen und arbeitete mit ihr an Dokumentarfilmen über sieben der acht Welterbe-Stätten, die es in Ungarn gibt. 2004 nahm er an einer Gruppenausstellung im leerstehenden Palast der Republik teil, der ihm so verführerisch erschien wie ein Spielplatz einem Kind, und er beschloss, dass er in Berlin studieren wollte. 2005 kam er schließlich mit einem DAAD-Stipendium; er studierte Kunst im Kontext an der Universität der Künste.
Wenn er sich an das Atelier erinnert, das er in dieser ersten Zeit in einer ehemaligen Fabrik in Schöneweide hatte, fühlt er wieder die Begeisterung, ohne Einschränkungen arbeiten zu können. Fast tausend Quadratmeter, eine ganze Etage, auf der er tun konnte, was er wollte. Er gestikuliert mit den Armen in der Luft, als könne er nicht glauben, was er erlebt hat.
Heute erlebt er die Kehrseite des Phänomens der massenhaft leerstehenden Immobilien aus nächster Nähe. Zusammen mit den anderen Mitgliedern der BLO-Ateliers, in denen sich auch sein Atelier befindet, führt er einen Kampf um den Erhalt dieser Kultur-Oase. Die BLO-Ateliers befinden sich in einem ehemaligen Bahnbetriebswerk in Lichtenberg; dort sind auch die Fotos unseres Spaziergangs entstanden. Dort sind verschiedene Vereine untergekommen, Künstlerateliers, Tonstudios, Proberäume und Werkstätten für Handwerker, die mit Metall, Stein oder Holz arbeiten, Spezialeffekte für Film herstellen, Pfeil und Bogen oder Bambusfahrräder bauen. Das 12.000 Quadratmeter große Gelände ist durchzogen von Sackgassen und wilder Vegetation und Gärten an den Rändern, in denen bis zu fünf Salatsorten wuchern. In der Mitte steht eine Gruppe von Birken, die der Künstler Lucasz Surowiec für die Berlin Biennale 2011 aus Auschwitz mitgebracht hat, als Erinnerung an das Grauen.
Nun läuft 2024 die zwanzigjährige Lizenz aus und die Deutsche Bahn als Eigentümerin plant, eine Straße durch das Gelände zu bauen. Genau durch die Mitte.
Auch Zoltan hat sich mit seiner Kunst mit diesem weit verbreiteten Problem auseinandergesetzt, das den kulturellen Reichtum der Stadt und ihrer Menschen direkt betrifft. Der Verlust von physischen und immateriellen Räumen für die Produktion von Kunst und Kultur war das Thema der Installation, die er Anfang 2021 für die Gruppenausstellung »Kindred Chronicles« im Museum Lichtenberg entwickelte. »Kaum Freiraum« bestand aus einer Installation von Leuchtkästen an den Außenfenstern des Museums. Die Boxen wurden abwechselnd eingeschaltet, wodurch ein Wortspiel mit dem Satz »Raum für Freiraum«, der an der Seitenwand des Gebäudes eingraviert ist, aktiviert wurde. In einer einminütigen Schleife erschienen nacheinander Frei, Raum, Freiraum, Kaum Freiraum, Kaum Raum und Kaum Frei, Frei. Denunziation als Kunstform – die Realität der Pandemie, von der Straße aus sichtbar gemacht.
Sichtbar gemacht wurde auch das Exil, denn die Ausstellung war Teil der Initiative von und für Künstler im Exil »Hier und Jetzt: Connections«, die 2017 von Künstlern der BLO-Ateliers gegründet wurde.
Zoltan erklärt, dass der Kontakt mit Flüchtlingen aus Syrien, der Türkei und anderen Ecken der Welt wirklich transformierend war. »Es gibt viele Gemeinsamkeiten, wenn es um die Gründe für Flucht geht«, sagt er. »Man merkt, dass es Aspekte gibt, die einen verbinden und man beginnt sich zu öffnen.« Eine Öffnung, die nicht auf der metaphorischen Ebene bleibt. An fünf Tagen in der Woche setzt er sich mit Flüchtlingskindern und Jugendlichen, die Deutsch lernen, zusammen und gestaltet und produziert mit Hilfe von Geschichten, Figuren, Zeichnungen, Scheren, Leuchtkästen, Gedichten, Wortspielen und Tonaufnahmen kurze Animationsfilme. »Trickmisch« ist der Name des Projekts.
Fünfzehn Jahre zuvor war es eine andere Dimension des Menschlichen, die ihn an Berlin fesselte. »An der Universität gab es eine Menge lateinamerikanischer Studenten. Ich begann, Leute aus Bolivien, Peru, Chile, Mexiko, Kolumbien… buchstäblich aus ganz Lateinamerika zu treffen. Als ich in Venezuela lebte, hatte ich nie diesen Zugang. Ich lernte einen Teil der kulturellen Eigenheiten jedes dieser Länder kennen und es war wirklich bizarr, dass ich nach Berlin kommen musste, um Leute aus Kolumbien kennenzulernen«, lächelt er und öffnet die Augen, wodurch er aussieht wie die Inkarnation des überraschten Smileys. Die Unmittelbarkeit der Verständigung war unerwartet für ihn, zwischen Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, die aber überall anders ist und in deren unterschiedlicher Kultur sich immer etwas gemeinsames findet. In diesem Moment erinnert er sich an die Träume des Befreiers Bolívar von der Einheit und deren Gültigkeit.
UNTER ANDROHUNG VON GEWALT
2011, ein paar Jahre nach Abschluss seines Studiums an der Universität der Künste, kehrte Zoltan nach Venezuela zurück. »Ich war voller Hoffnung«, sagt er ironisch. »Ich richtete dort mein Atelier ein und begann zu arbeiten. Aber, naja, meist aus Gründen der Zensur, meine Werke… Öffentliche Institutionen waren undurchdringlich.«
Ihre Arbeit war zu politisch, sage ich ihm. Er erwidert, dass in diesem Venezuela das bloße Aufzeigen eines Phänomens und das Äußern einer kritischen Sichtweise Unbehagen erzeugt. »Ich habe mit dem Thema der nationalen Symbole als Identitäten des Patriotismus gespielt und dass dies nichts mit der kulturellen Identität eines Landes oder eines Volkes zu tun hat.« Anschließend spricht er über die Rolle von Migrationen und Mischungen in Venezuela. Er erklärt, dass Venezuela immer ein gastfreundliches Land war, das kolumbianische Migranten wegen des Drogenhandels und chilenische Exilanten nach dem Pinochet-Putsch aufnahm und dass Venezuela schon vor Chavez links war. Er spricht von den Libanesen, die auf der Flucht vor dem Krieg gekommen sind und deren Geschmack nun einige Gegenden von Caracas durchdringt. Er erinnert an die Musik der venezolanischen Karibik und an die Guajiros an der Grenze zu Kolumbien. Das ist die lebendige Kultur, eine, die nicht erzwungen wurde.
Sein ungarischer Großvater kam 1947, ebenfalls auf der Flucht vor dem Krieg, nach Venezuela. Seine Mutter war neun Jahre alt, als sie Budapest verließen. Der deutsche Vater reiste um die halbe Welt, bevor er seine zukünftige Frau in New York traf und mit ihr in Caracas landete.
»Ich sehe an meiner Mutter, dass sie sich noch sehr ungarisch gefühlt hat, als sie in Venezuela war. Das kam in ihrer Generation oft vor. Andererseits sagen meine Geschwister und ich und viele Leute, die ich kenne, einschließlich meiner Frau, die während der Pinochet-Diktatur im Alter von zwei Jahren aus Chile kam: ‘Ich habe zwar einen chilenischen Pass, aber ich bin Venezolanerin’. Wo man die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hat, ist wichtiger als was im Reisepass steht.« Zoltan wuchs mit Spanisch, Ungarisch und Deutsch auf. Jede Sprache ist für ihn ein Universum und eine Tür. Er erklärt, dass es eine Art ungarische Intimität gibt, zu der er Zugang hat, weil er die Sprache spricht.








Abgesehen von der Unmöglichkeit, mit seiner Kunst in Venezuela voranzukommen, wurde die Gewalt zu einer allzu realen Bedrohung, als er angeschossen wurde. »Auch meine Tochter wurde 2012 geboren, und wir mussten 2015 die Entscheidung treffen, als einer der Chefs meiner Frau entführt und getötet wurde. Das war eine missglückte Entführung. Die Situation bestand teils aus Paranoia, teils aus der Tatsache, dass deine Freiheiten immer mehr beschnitten wurden. Die Menschen leben mittlerweile wie in einem privaten Gefängnis, und sind in ihrem eigenen Wohnung, ihrem eigenen Haus.«
Als Chávez im Jahr 2013 starb, hatte sich die Gewalt im ganzen Land verbreitet. Zoltan sah diese Katastrophe und sagt, dass dies einer der Gründe ist, warum immer mehr Menschen auswandern. »Es gab Statistiken, die sagten, dass alle siebzehn Minuten jemand getötet wurde. Für irgendetwas wie einen Ring, oder nur aufgrund der Tatsache, dass man nichts hatte, ein armer Schlucker, wie man so sagte. Außerdem wurden die Waren knapp, und der Dollar kam und verdrängte die Landeswährung – wie noch immer. Entweder man lebte in diesem ‘dollarisierten’ Venezuela oder man hatte das ‘Carnet de la Patria’ (den ‘Vaterlandsausweis’) und damit die einzige Möglichkeit, an staatliche Subventionen zu kommen. Das Carnet de la Patria geht über den Personalausweis hinaus, man muss der Partei angehören, es ist eine Form der Kontrolle. Das ist das Venezuela von heute, ein gespaltenes Venezuela mit zwei Realitäten. In einer Wirtschaft, die dollarisiert ist, zu überleben, ist praktisch unmöglich.«
»Alle Faktoren tragen zu diesem Teufelskreis bei: Die Kriminalität steigt, die Sicherheit wird zu einer privaten Angelegenheit, die Polizeibeamten sind nicht mehr dort, wo sie eigentlich sein sollten, sondern arbeiten für die Sicherheit von Privatleuten und die Hälfte der Zeit arbeiten sie nicht mehr in Uniform. Dann weiß man manchmal nicht, wer wer ist.«
FARBE UND FORM
Als Kind verbrachte Zoltan viel Zeit im Atelier einer Nachbarin, die seine große Lehrerin wurde, der kroatischen Künstlerin Seka Severin de Tudja, die während Titos Diktatur nach Venezuela emigrierte und eine neue Art der Keramikherstellung mitbrachte. »Sie arbeitete auch mit Hohlkeramik. Und so begann ich damit und liebe es immer noch, mit Geometrie zu arbeiten, sowohl mit Metall als auch mit Glas.«
Während er über den Einfluss der geometrischen Kunst von Jesús Rafael Soto und Carlos Cruz-Diez in Venezuela spricht, betrachte ich die Prototypen im Atelier. Neben dem Stück, das von der Decke hängt, liegen auf einer Kommode zu meiner Linken mehrere Varianten von Silberkegeln. All seine Metallskulpturen folgen dem gleichen Muster: er erkundet mit einem Stück Stahlblech, wie weit er ohne Schweißen oder Kleben kommt.
Die Gläser sind mundgeblasene und haben die Form einer Birne oder eines Wassertropfens. Aus einer Kiste auf dem Boden zieht er zuerst eine rosafarbene und dann eine größere gelbe, die er mit beiden Händen tragen muss. Als er sie auf seinen Schreibtisch stellt, erwärmt ein bernsteinfarbenes Licht die kalte Atmosphäre des Raumes.
Diese »ästhetische Flucht«, wie er es nennt, bringt ihm die Vorwürfe seines Galeristen in Ungarn ein. Ein Künstler muss leicht erkennbar sein – das was er, Zoltan, tut, ist kontraproduktiv, meint der Galerist. Zoltan lächelt nachsichtig, er ist mit sich selbst im Reinen: »Zwischen all meinen Videos und inhaltlich dichten Installationen ist es manchmal gesund, einfach nur auf Farbe und Form zu setzen. Wenn ich nicht die Flucht in die Skulptur und das Glas hätte, wäre das ziemlich schwer für mich.«
Auf Zoltan Kunckels Instagram kann man einen großen Teil seiner künstlerischen Produktion sehen. Die Online-Inhalte der Ausstellung »Museo de la Democracia« sind weiterhin verfügbar. Das ist »Trickmisch«. Hier sind die B.L.O.-Ateliers.